Rattus rattus über die Menschen
Mit ihrem neuen Buch legt Kerstin Decker eine Ideengeschichte der Menschheit verknüpft mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen – erzählt aus der Perspektive einer Hausratte – vor. Es ist erstaunlich, welchen Bogen sie dabei spannt: beginnend im Pliozän beim Ursäugetier, endend im Corona-Jahr 2020. Dazwischen erklärt sie die Entstehung der Landwirtschaft und des Eigentums, zitiert Kant, Sloterdijk, Nietzsche und andere westliche Philosophen (keine Philosophinnen). Sie ärgert sich über seit Millionen Jahren bestehende Ungerechtigkeiten zwischen Männern und Frauen und den Versuch, diese mittels ‚grammatischer Interventionen‘ zu beseitigen. Zentral in ihren Ausführungen ist die Problematisierung der wachsenden Anzahl der Menschen. Ein Unterkapitel ist Thomas Robert Malthus gewidmet. Darwin und die Nazis werden sich später auf ihn beziehen. Spätestens hier ist jetzt klar, dass Decker Theorien und Zusammenhänge verknüpft, die in solcher Weise selten gedacht werden. Manchmal ist es befremdlich, wie stark sie sich auf die Biologie bezieht, ein Biologismus könnte vermutet werden. Aber nein, es ist nicht so. Decker hat sehr viel gelesen, auch Studien, die von Philosoph*innen im Allgemeinen nicht gelesen werden. Und sie kommt zu erstaunlichen Erkenntnissen: Menschen sind die grausamsten Tiere, gehören zu den einzigen Tieren, die eine Religion haben und Steuern zahlen. Acht Männer besitzen mehr als zwei Drittel des Reichtums der Welt.
Empfohlen zum Selber-Nachlesen ist die Studie von John B. Calhoun Universe 25. Ein 25 Mal wiederholtes Experiment zur Auswirkung von Bevölkerungsdichte auf das Verhalten. Sind wir gesellschaftlich jetzt dort, wo die Ratten in Calhouns Experiment waren, bevor sie alle starben? Keine flüssig zu lesende Lektüre, aber sie lohnt sich.
Beate Foltin
Kerstin Decker: Die Geschichte des Menschen. Von einer Ratte erzählt. 432 Seiten, Berlin Verlag, Berlin 2021 EUR 24,70