Noch einmal wer sein, das wollen wir
Hannelore, Anni und die schöne Else, drei Damen jenseits der 80, sitzen im Aufenthaltsraum ihrer Seniorenresidenz und lassen sich vor dem Fernseher von Heidi Klum und ihren Mädchen berieseln. Die Schwestern Gudrun und Gerlinde fahren mit Ola, der Pflegerin der verstorbenen Mutter, nach Polen. Abwechselnd schicken sie Sprachnachrichten an die ausgewanderte und abwesende Tochter Tini. Die ehemals besten Freundinnen Thao, Undine und die schwangere Jenny treffen sich auf ein letztes gemeinsames Wochenende vor der Geburt von Jennys Kind. Und Kay. Kay findet bei Jenny Unterschlupf, ihre Mutter Charlotte befindet sich in der Psychiatrie. Julia Wolfs Roman ist in drei Kapitel aufgeteilt, jedes einer Generation gewidmet. Kaleidoskopartig beschäftigt sich Julia Wolf mit den großen Themen der weiblichen Kriegs-, Nachkriegs und Gegenwartsgeneration Deutschlands: Flucht, Krieg, Schuld, Neuanfang, Migration, Ehe und Mutterschaft. Durch Gesprächs- und Gedankenfetzten werden die Lebensgeschichten der Protagonistinnen mehr angedeutet als erzählt. Die verknappte Sprache spiegelt diese biographischen Lücken wider. Der Autorin gelingt damit ein feinfühliger und zugleich mitreißender Gegenwartsroman, der vor allem mit seinen leisen Tönen an Tiefe gewinnt. Für das Romanprojekt Alte Mädchen wurde Julia Wolf 2018 mit dem Robert Gernhardt Preis ausgezeichnet.
Lea Kimla
Julia Wolf: Alte Mädchen. Roman. 284 Seiten, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 2022 EUR 25,50