Helga Paris: Chronik einer vergangenen Welt

Man schaut so ein Werk an und beginnt sofort zu vergleichen: Hier, die Eckkneipenfotografie erinnert mich an Libuše Jarcovjáková, die passfotoartigen Selbstporträts muss Thomas Ruff studiert haben, bevor er losgelegt hat, und da, die amerikanische Einstellung, das ist, wie später Rineke Dijkstra arbeiten wird. Vor allem Manuela“, rauchend und im Karohemd in einer Wohnung abgebildet, mit dem gelangweilten Blick der GenZ, bleibt hängen, wenn man durch den 240 Seiten starken Katalog blättert, der zur Ausstellung im Fotografiska in Berlin erschienen ist und eine kleine Auswahl aus den 230.000 Negativen von Paris‘ Nachlass umfasst. Mehrfach äußerte sich Paris dazu, wie sehr sie die Menschen, und vor allem die Jugendlichen mag, die in Gruppen auftauchen, und denen sie mit ihren starken Porträts etwas Individuelles gibt.

Helga Paris wurde 1938 in Westpommern geboren, machte die Ausbildung zur Modedesignerin und Gebrauchsgrafikerin und wurde erst im zweiten Bildungsweg Fotografin. Sie ist keine, die es erst neu zu entdecken gilt, deren Oeuvre verborgen blieb unter den vielen Männern oder den vielen Berühmten oder den vielen Gefeierten. Paris ist selbst eine Gefeierte. Eine Berlinerin in Berlin, Volgograd und New York, in deren Straßen- und Alltagsfotografie man eintauchen kann wie in einen richtig guten Film. Die unglaubliche Künstler:innenporträts gemacht hat (man beachte etwa die Intimität, mit der sich Heiner Müller und Carlfriedrich Claus auf ihrem Doppelporträt zulächeln), die den Menschen ganz nahegekommen ist, ohne übergriffig zu sein. Dabei sagte sie über sich selbst: „My problem with people is always that I am afraid to approach them. It is like stage fright. I don’t know why – all they can say is yes or no.“ Nichts von dieser Angst ist in ihren Bildern spürbar.

Lisa Bolyos

Helga Paris. Hg. von Udo Kittelmann u. Marina Paulenka. 240 Seiten, 150 Abbildungen, Kehrer Verlag, Heidelberg 2025 EUR 49,40