Die sogenannte Wirklichkeit

Von wegen, schöne Jugend: Die Zeit des Erwachens und Erwachsenwerdens ist äußerst selten eine schmerzfreie Angelegenheit, nicht einmal im Rückblick. Diese Erfahrung macht die Hauptperson in Vigdis Hjorths autobiografisch gefärbtem Roman Wiederholung: Die Ich-Erzählerin hat sich – nach einer intensiven Phase öffentlicher Auftritte – in eine einsame Hütte im Wald zurückgezogen. Es ist spät im November, meist dunkel und kalt. Der tägliche Spaziergang mit ihrer Hündin wird für die Protagonistin zu einem üblen Trip zurück ins Jahr 1975, in die verwirrende Zeit der Jugend. Auf dem Programm stehen Schrecklichkeiten wie erste, unbeholfene und peinliche sexuelle Erfahrungen, hemmungslose Besäufnisse zum Zweck der Initiation oder der permanente Überwachungsterror durch die Mutter. Die Autorin geht gnadenlos dorthin, wo es am meisten weh tut, kratzt den Schorf von der Wunde, bis es wieder blutet und eine vor Scham versinken möchte. Wie schon im Vorgängerroman Ein falsches Wort – als dessen Spin-Off Wiederholung gelesen werden kann – widmet sich Hjorth mit großer Leidenschaft dem Schlachtfeld Familie. Der Fokus der Autorin liegt diesmal aber nicht so sehr auf dem erlittenen Missbrauch und der Frage nach Wahrheit und wem sie gehört, sondern der liebevollen Versöhnung mit ihrem 16-jährigen Ich.
Ute Fuith
Vigdis Hjorth: Wiederholung. Aus dem Norweg. von Gabriele Haefs. 160 Seiten, S. Fischer, Berlin 2025 EUR 22,70