Ein Gefängnis als Universität des Lebens

Um ihren Roman Die Kunst der Freude zu schreiben, gab die ehemalige Schauspielerin Goliarda Sapienza alles auf, bis sie eines Tages aus finanzieller Not einen Diebstahl beging und im römischen Frauengefängnis Rebibbia landete. Ihre Erfahrungen dort hielt sie in einem Tagebuch fest, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt und sowohl sprachlich als auch inhaltlich beeindruckt. Als kritische und einfühlsame Beobachterin beschreibt die Autorin das Gefängnis als Ort der Solidarität unter Frauen. Klassenunterschiede werden zwar nicht überwunden, die Insassinnen unterstützen sich aber gegenseitig, nehmen sich in ihrer Verschiedenheit an und lernen voneinander. Gemeinsam entwickeln sie die Idee der „Universität von Rebibbia“ (so auch der Titel im italienischen Original), in deren Mikrokosmos völlig neue Sichtweisen auf das Leben und seinen Sinn entstehen. Die freundschaftlichen Bande unter den Inhaftierten lassen aber nicht über die Brutalität des Gefängnissystems hinwegtäuschen. Sapienza scheint auch nicht die Verklärung des Gefängsnisalltags ein Anliegen gewesen zu sein, sondern die respektvolle Würdigung der Frauen, denen sie in Rebibbia begegnet ist. Sie erzählt das Gefängnis als einen Ort mit ganz eigenen Spielregeln und Konventionen, der sie nach Ende ihrer Haftzeit als eine Andere in die Freiheit(?) entlässt. Berührend und weise, für mich eine der interessantesten Neuerscheinungen des Jahres.

ReSt

Goliarda Sapienza: Tage in Rebibbia. Gefängnistagebuch. Aus dem Ital. von Verena von Koskull. 190 Seiten, aufbau Verlag, Berlin 2022. EUR 20,60