Eine mikroskopische Brille

Die handgeschriebenen Lebenserinnerungen der im Jahr 1982 verstorbenen jüdischen Journalistin und Autorin Gabriele Tergit wurden nun neu editiert und herausgegeben. Anschaulich beschreibt Tergit die Wirkung in der Zivilgesellschaft auf die politischen Veränderungen in den unterschiedlichen Zeitabschnitten von der Weimarer Republik bis weit in die Nachkriegszeit hinein in Deutschland. Wie kann es passieren, dass eine kleine Gruppe von Leuten so rasch die damals neu entstandene Demokratie aushebelt und ein totalitäres, menschenfeindliches System aufbaut, deren rassistisches Gedankengut auch nach dem ‚Untergang des Dritten Reiches‘ ideologisch in den Köpfen der Leute fortlebt. Anhand von Eindrücken sammelt Tergit oft mit Verwunderung die geistige Verfasstheit ihrer GesprächspartnerInnen oder Stimmungen von Menschen auf der Straße auf. Es sind Äußerungen von OpportunistInnen, von menschenverachtenden Kriminellen oder von einfachen Leuten, denen es an Zivilcourage und Empathie mangelt, die sie festhält. Interessant ist ihr Briefwechsel mit dem verbitterten Karl, der stark unter die Haut geht. Der antifaschistische Karl kann im zweigeteilten Deutschland nach 1945 weder dem diktatorischen Leben im Osten Berlins noch – nach seiner Ausreise –dem von der nationalsozialistischen Kontinuität geprägten Leben im Westen etwas abgewinnen. Der collagenartige Schreibstil gestaltet die inhaltliche Aneignung der jeweils vorgestellten Ereignisse oder Gesprächssituationen nicht ganz leicht für die Leserin. Dennoch sind viele von ihr erwähnte historische Mosaiksteine scharf geschliffen!
ML
Gabriele Tergit: Etwas Seltenes überhaupt. Nachwort von Nicole Henneberg. 418 Seiten, Schöffling & Co, Frankfurt 2019 EUR 26,80