Haben oder Sein?

Das ist die Frage in diesem visionären Roman! Möchte jemand, egal, wo er sich auf der Welt befindet, einen elektronischen Kentuki in der eigenen Wohnung haben? Oder will jemand mittels eines Computers über eine IP-Adresse ein Kentuki mit Kamera sein und sich als Maulwurf, Drache, Kaninchen, Rabe oder Pandabär in der Wohnung unbekannter Menschen, tausende Kilometer entfernt, aufhalten? Der Kentuki kann die Menschen bei all ihren Handlungen in ihrer Privatsphäre beobachten und mit ihnen kommunizieren. Es gibt drei Möglichkeiten einen Kentuki auszuschalten: Entweder man sorgt dafür, dass er nicht mehr zu seiner Ladestation kommt, sein Alter Ego löscht den Account oder seine Eigentümer*innen zerstören ihn. Schweblin, eine der bekanntesten argentinischen literarischen Stimmen, schafft es, eine vernetzte, entfremdete Welt zu kreieren, in der es um Einsamkeit und scheinbare Alternativen für fehlende Kommunikation geht. Während unmittelbare soziale Beziehungen gestört sind, wird ein emotionales Verhältnis zum Kentuki als menschlichem Ersatz aufgebaut. Schon bald treten konfliktreiche Situationen auf, die die Grenzen der neuen Interaktion signalisieren und für negative Energien sorgen. Eine eindrucksvolle Dystopie, die Realität annehmen könnte.

ML

Samanta Schweblin: Hundert Augen. Aus dem arg. Spa. von Marianne Gareis. 251 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2020 EUR 22,70