Midlife-Krise, die sich lohnt

Ingrid und Jan, ein gut situiertes Ehepaar mit zwei Söhnen um die 20 Jahre im bürgerlichen Oslo, ringen mit der Krise der mittleren Jahre. Im Grunde ist es Ingrids Geschichte. Ihr Leben ist ein tiefes Spiegelbild der Ereignisse des 20. Jahrhunderts: sie wuchs bei den Großeltern auf, nachdem sich ihre Mutter umgebracht hatte, und erlebte auch den Tod des alkoholkranken Vaters. Ihr Großvater sprach wenig, seit er von der Gestapo deportiert worden war. Dieses Erbe, „das sie mit sich herumschleppte“, scheint nun an den Tag zu treten. Obwohl Ingrid als Studienrätin ein gesellschaftlich geregeltes Leben in einer schönen Villa führt, entgleitet ihr diese Normalität zuse­hends. Ihr einziger Rückzugsort ist das Behinderten-WC der Schule. Auf eine psychologisch tiefsinnige und unerwartete Art stellt sie ihr Leben und Handeln in Frage. Alles scheint auf eine Katastrophe hinauszulaufen. Aber als ihr Mann probeweise zu einer jüngeren Arbeitskollegin zieht, bleibt sie ruhig, tastet sich behutsam an ihre Bedürfnisse heran.

Man möchte gar nicht so ausführlich von den Trieben der anderen erfahren. Man möchte viel mehr von Ingrid erfahren, wie sie völlig harmlos und doch gegen alle Konventionen immer wahrhaftiger wird – und zuletzt sich selbst genügt: kindlich frei, nicht kindisch und schon gar nicht verrückt, nur näher zu sich selbst gerückt. Nina Lykke lässt Ingrid über viele gesellschaftlich relevante Themen nachdenken und zeigt, dass sich AutorInnen nicht immer an die Schwerkraft halten müssen.

Christine Huber

Nina Lykke: Aufruhr in mittleren Jahren. Aus dem Norw. von Ina Kronberger und Sylvia Kall. 272 Seiten, Nagel & Kimche, München 2018 EUR 20,60