Sozialstudien zwischen den Weltkriegen

Gabriele Tergit, die auch Romane schrieb, war eine der ersten weiblichen Journalistinnen. Bekannt wurde sie durch ihre Gerichtsreportagen, die sich als Sozialgeschichte der Berliner Zwischenkriegszeit entschlüsseln lassen. Der Gerichtssaal war für sie eine offene Bühne, um auf soziale Konflikte, die reaktionäre Klassenjustiz der Richter oder die durch die Schlägertrupps der Nationalsozialisten aufkommenden bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse aufmerksam zu machen. Heiratsschwindler, Arbeitslose, vom Leben gebeutelte Menschen, Kokainistinnen, Betrügerinnen oder Schlägertrupps der nationalsozialistischen Partei, die sich wegen Raufhandels verantworten müssen, werden eindrucksvoll charakterisiert. Die Naivität betroffener Beschuldigter wird durch ihre Beobachtungen ebenso sichtbar wie die Dreistigkeit politischer Reaktionäre Falschaussagen zu treffen. Die Behandlung der Engelmacherinnen, Transgenderschicksale, gestrandeten jungen Frauen, betrogenen Ehefrauen, Abenteuerinnen vor einem Gericht ermöglicht einen Blick auf Geschlechterverhältnisse. Und so liegt es in einer patriarchalen Gerichtspraxis, wenn ein wegen groben Unfugs angeklagter Mann in Frauenkleidern freigesprochen wird, aber eine in Hosen gekleidete Frau zu drei Wochen Haft verurteilt wird. Eine interessante Lektüre, zuweilen aufgrund der zeitlichen Entstehung antiquiert in der Ausdrucksweise, aber ausgesprochen lehrreich und unterhaltsam, um die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Weimarer Republik besser zu verstehen.
 ML
Gabriele Tergit: Vom Frühling und von der Einsamkeit Reportagen aus den Gerichten. Mit einem Nachwort von Nicole Henneberg. 360 Seiten, Schöffling & Co., Frankfurt/M. 2020, EUR 28,80