Zwischen den Fronten
Die Ukrainerin Olga Krawzowa wurde 1923 in der Kleinstadt Snamjanka geboren. Als die Nationalsozialisten im Spätsommer 1941 in ihre Heimatstadt einmarschieren, ist sie 17 Jahre alt. In ihrem Tagebuch beschreibt Olga die Zeit der deutschen Besatzungsherrschaft in der Ukraine sowie die ersten Monate nach der Befreiung durch die Rote Armee. Als Heranwachsende hat sie ein ambivalentes Verhältnis zu den Besatzern, die einerseits Feinde sind, ihr aber auch einen sozialen Aufstieg ermöglichen: Dank ihrer guten Deutschkenntnisse wird sie zunächst Deutschlehrerin, später Dolmetscherin und Übersetzerin bei der Reichsbahn. Während dieser Zeit lernt Olga auch viele deutsche Männer kennen, manche sogar besser. Dazu gibt es viele schwärmerische, ihrem jugendlichen Alter entsprechende Einträge. Die deutschen Massenverbrechen tauchen oft nur als Randnotizen auf. So erscheint der Vernichtungskrieg in Olgas Tagebuch nicht nur als Ausnahmezustand mit unfassbarem Terror und Gewalt, sondern auch als Raum für Begegnungen mit deutschen Besatzern. Olgas Blick auf die sowjetische Heimat wird zunehmend kritischer. Nach der Rückkehr der Roten Armee gerät sie als mutmaßliche Kollaborateurin ins Visier der Sicherheitsbehörden. Ihr Nachkriegsschicksal konnte bisher nicht geklärt werden. Olgas subjektiver Blick auf den Krieg hält zwar zahlreiche Irritationen bereit, dennoch ist ihr Tagebuch ein spannendes Quellendokument für historisch interessierte Leser:innen. Teile des Tagebuchs sind 2009 in einer ukrainischsprachigen Zeitschrift erstmals veröffentlicht worden. Die Edition von Tanja Pentner und Stefan Schneider basiert auf dem vollständigen Tagebuchdokument, das sich im ukrainischen Staatsarchiv in Kiew befindet.
Ute Fuith
lgas Tagebuch (1941–1944). Unerwartete Zeugnisse einer jungen Ukrainerin inmitten des Vernichtungskriegs. Hg. von Tanja Penter und Stefan Schneider. 432 Seiten, Böhlau, Köln, 2022 EUR 41,00