Erinnern in anerkennender Differenz

Seit einigen Jahren tobt im deutschsprachigen Raum der Streit, ob lesbischen Frauen als Verfolgungsopfer des Nationalsozialismus gedacht werden könne. Die Linien der Kontroverse liegen an den Fragen, ob die diesbezügliche Situation von Lesben mit jener von Schwulen verglichen werden könne, auf welche Gebiete und Gesetze der NS-Herrschaft zu welchem Zeitpunkt Bezug genommen wird (z.B. inkl. „Ostmark“ ab 1938, wo ein anderes Gesetz galt), welche Beweiskraft Quellen haben, ob von „Verfolgung“ oder „Risiken“ gesprochen werden und wie ein solches Ko-Erinnern formuliert werden könne bzw. was dieses für heutige politische Forderungen bedeuten würde. Im jüngsten Band des seit 21 Jahren erscheinenden Jahrbuchs für die Geschichte der Homosexualitäten (im Plural!) „Invertito“ werden diese und noch andere Aspekte von verschiedenen Seiten beleuchtet. Es ist ein großes Verdienst, dass die verschiedenen Protagonist_innen aus Aktivismus und (Geschichts-) Wissenschaft dieser teils erbittert geführten Debatte zu Wort kommen, ihren Standpunkt darstellen und auch auf die Gegenargumente differenziert – mitunter recht emotionalisiert – eingehen. Fast alle der 10 Texte beziehen sich mehr und weniger darauf; weiters wird über die Verwendungsgeschichte des rosa Winkels, über die Situation von Inter* und Trans*Personen, über Einzelbiografien und US-amerikanische Neonazis qualifiziert informiert. Es ist ein höchst lesenswerter, weiterführender Band mit mehreren Lösungsansätzen, der nicht zuletzt zeigt, welche Effekte die Nicht-Berücksichtigung von Geschlechter­differenz zeitigen kann.

Meike Lauggas

Verfolgung homosexueller Männer und Frauen in der NS-Zeit & Erinnerungskultur. Invertito: Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. 21. Jg. 256 Seiten, Männerschwarm Verlag, Berlin 2019, EUR 19,60