Ich vermisse Dich fürchterlich…
„Was für eine riskante Sache, die Wahrheit auf Tatsachenebene zu sagen ohne theoretische und akademische Verbrämung. […] Der Versuch der Leute, die die politische Kampagne betreiben, läuft darauf hinaus, ein ‚Image‘ zu schaffen, das schließlich das wirkliche Buch zudecken wird. Ich kann nichts dagegen tun, […] weil ein Einzelner per definitionem machtlos ist und die Macht der ‚Image‘-Schaffer beträchtlich.“ (254f) Dies schreibt Hannah Arendt im September 1963 in ihrer Korrespondenz mit Mary McCarty anlässlich der massiven öffentlichen Anfeindungen rund um ihr Buch zum Eichmannprozess. Die Herausgeberin nennt den über 25 Jahre währenden Briefwechsel zwischen der Philosophin und der (damals prominenten) Schriftstellerin „eine Romanze in Briefen […] denn sie spiegelt die Geschichte einer leidenschaftlichen Freundschaft, die […] ganz unwahrscheinlich war“ (37), denn das Amerikanische der einen blieb der europäisch geprägten anderen letztlich unvertraut – und umgekehrt. Die Gespräche und die Briefe können auch als Zuflucht aus den politischen und sozialwissenschaftlichen Kontroversen ihrer Zeit, in die sie involviert waren, gelesen werden. Der Austausch – für heutige Lesende hilfreich erklärt in Fußnoten zu Personen und Ereignissen – changiert zwischen Alltagsanekdoten, Urlaubserzählungen, kritischen Gegenlesungen von Texten, Einschätzungen der politischen Lage (Vietnam, Watergate, Kuba etc.), bissigen Anmerkungen zur Intellektuellen- und Kulturschickeria, erstaunlichen Berichten zu den 68er Revolten in USA und Paris und spiegeln nicht nur eine lebendige Denkbewegung, sondern sind ein aufschlussreiches Dokument einer unsere Auseinandersetzungen bis heute prägenden Zeit. Spannend, nicht nur für Arendt affizierte.
Birge Krondorfer
Hannah Arendt + Mary McCarthy: Im Vertrauen. Briefwechsel 1949 – 1975: Hg. von und mit einer Einführung von Carol Brightman. 620 Seiten, Piper, München 2020 EUR 18,50