Inne sein!
Gudrun Seidenauer beschreibt eindrucksvoll in ihrem neuen Roman, dass das menschliche Miteinander und Füreinanderdasein der Faktor ist, der wesentlich ist, um tragische Schicksalsschläge zu verkraften. Im Wien 1945 lernen sich drei sehr unterschiedliche Frauen kennen. Die besonnene Mali ist Alleinerzieherin und verschweigt ihrem Sohn Robert, dass dessen Vater noch lebt. Um für sich und ihren Sohn den Unterhalt zu bestreiten, kommt es ihr gelegen, dass sie die eher schweigsame Vera kennenlernt, die in ihre Wohnung mit einzieht. Vera ist vom Land nach Wien geflüchtet, nachdem sie aus Notwehr einen GI erschlagen hat, der sie vergewaltigen wollte. Die lebenslustige Grete wiederum arbeitet für die amerikanische Besatzung als Dolmetscherin und würde gern einen liebevollen GI finden, um nach New York auszuwandern. Nachdem Grete als Dolmetscherin bei der Aufklärung des toten GIs tätig ist, ist sie sich aufgrund einer eindeutigen Spur relativ schnell im Klaren darüber, dass zwischen Vera, deren Familie am Land in der Nähe des Tatorts wohnt, und dem Todesopfer ein Zusammenhang besteht. Der offene Umgang der Frauen mit ihren Geheimnissen untereinander schweißt die Frauen eng zusammen, obgleich sie über sehr verschiedene Lebensauffassungen verfügen. Die Stärke des Romans liegt darin, dass die präzise Beschreibung der glaubwürdigen Charaktere und der allgemeinen historischen Atmosphäre vor dem inneren Auge wie ein Film nachvollziehbar wird. Ein weiterer Höhepunkt im Roman ist der Zeitsprung zur älteren Mali, wie sie im Altersheim von einer Jesidin gepflegt wird.
ML
Gudrun Seidenauer: Libellen in Winter. 435 Seiten, Jung und Jung, Wien 2023 EUR 24,00