Literatur und die Macht der Erinnerung

Die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin, versetzt uns in ein beklemmendes Szenario: sie wird von einer nicht definierbaren Person aufgefordert, Bericht zu erstatten. Sie soll wöchentlich eine akustische Reportage schicken, dem eigenen Rhythmus folgend erzählen und die Stimmen der anderen dokumentieren. Anlass dieses Arrangements ist ein Umsturz, die schrittweise Etablierung einer faschistischen Diktatur in Frankreich, deren zentrales Anliegen die Auslöschung der Vergangenheit, des kollektiven wie individuellen Gedächtnisses ist. Als Inhalt und Ziel der nächtlichen Soundblogs kristallisiert sich eine Art Selbstinfragestellung heraus, bei der sich die Ich-Erzählerin ihr leichtsinniges Nichternstnehmen der Zeichen der Veränderung vorwirft. Dabei variiert sie die Idee, dass ein Umbruch und Zerstörung nicht plötzlich, nicht ohne Ankündigung kommen. Für dieses notwendige Erkennen von Zeichen führt sie viele Beispiele aus der Literatur, aus Filmen, dem Theater, der Musik an. Zentral ist auch das Motiv der Sonnenfinsternis als Metapher der – politischen, gesellschaftlichen, geistigen – Verdunkelung. Gegen die diktatorisch verordnete Präsenz besteht die Ich-Erzählerin auf das Erinnern, den Bezug auf in Kunst und Literatur verdichteten früheren Erfahrungen, Ideen, Konzepten als Basis für Widerstand und Neuanfang. Der unglaublich vielschichtige, vielstimmige, seine Erzähl- und Rezeptionsbedingungen literarisch inszenierende Text ist dafür selbst ein beeindruckendes Beispiel.
SaZ
Cécile Wajsbrot: Zerstörung. Aus dem Franz. von Anne Weber. 230 Seiten, Wallstein, Göttingen 2020 EUR 20,60