Sumpf und Eis

Dem Klappentext entnimmt man, dass die Eltern der Autorin in den 1980er Jahren als Bootsflüchtlinge in die Niederlande gekommen sind. Es ist ihre eigene Familiengeschichte, die sie zum Roman inspiriert hat und die sie aus Kinderperspektive erzählt. Der Titel „Tausend Väter“ erschließt sich erst nach und nach, denn die elfjährige Nhung wächst ohne Vater auf. Seit er Frau und Kind verlassen hat, herrscht ewiger Winter in Beiahem, dem Ort, von dem es nur die wenigsten schaffen wegzukommen, an den niemand je zurückkehrt.
Das Buch ist ziemlich düster und bedrückend, gleichzeitig fantastisch im doppelten Sinne. Was Realität und was der Vorstellungskraft des Mädchens entsprungen ist, lässt sich nur schwer feststellen. Väterliche Freunde tauchen auf, um sie letztlich zu verraten, zu enttäuschen oder für ihre Zwecke zu missbrauchen. Der Lehrer Lever klebt sie zur Bestrafung im Klassenzimmer an die Decke, weil er ihr unterstellt zu lügen bzw. zu viel Fantasie zu haben, was dasselbe sei. Die Mutter ist schwer depressiv. Nhungs wahre Freundin ist der Vogel Pirouette, der bedingungslos zu ihr hält und den zu opfern sie am Schluss gezwungen wird. So muss es sich anfühlen, wenn man allein ist, sich fremd und ausgegrenzt fühlt. Wenn man einen Ort zwar Heimat nennt, von den Menschen dort aber nicht angenommen und willkommen geheißen wird. Wenn man die Ausweglosigkeit erahnt, weil man dem Sumpf nicht entkommen kann und das Eis zu brüchig ist.

Julia Lindenthal

Nhung Dam: Tausend Väter. Aus dem Niederl. von Bettina Bach und Christiane Kuby. 400 Seiten, Ullstein, Berlin 2019, EUR 20,60