Zwischen Realitäten

Der Titel des Buches steht für das Jahr, in dem sich die russische Oktoberrevolution zum 100. Mal jährt. Die Welt, die Lesende vorfinden, ist eine von Enttäuschungen, Korruption und Abhängigkeiten durchzogene Realität. Das Russland des Jahres 2017 scheint Wahr‑ heiten nicht mehr auszuhalten, wahrhaftige Erlebnisse bleiben dem Geheimen vorbehalten. Demokratische Verhältnisse sind vollkommen obsolet, Gewalt und Diktatur übernehmen die Leitung der Gesellschaft. Der Hauptprotagonist Krylow, der sich seinen Lebensunterhalt durch die Verarbeitung illegaler Edelsteine zu Schmuckstücken verdient, oszil‑liert in einer wahnsinnigen Realität zwischen seiner gebrechlichen Geliebten und seiner erfolgreichen, dominanten Ex-Frau. Die Figuren fügen sich ihren Rollen im Spiel des Anscheins und der gefährlichen Schwerelosigkeit moderner Beziehungsgeflechte. Je näher das historische Datum der Revolution rückt, desto häufiger werden die gefährlichen Ausschreitungen in der Stadt – bis zum Rücktritt der Regierung. Nach der Erosion der stabilen Gesellschaft und der persönlichen Beziehungen Krylows, bleibt nur noch die Flucht ins Ungewisse als letzter Ausweg.

Wer dieses Buch im Jahr 2017 liest, kann Spuren der heutigen Welt mit Sicherheit wiedererkennen. Sie wird als „globales Molekül“ beschrieben, das alle Menschen und ihre kapitalistischen Unternehmungen bedingungslos beherrscht. Olga Slawnikowas „2017“ ist eine Gesellschaftsanalyse im pathetischen Stil russischer KlassikerInnen, in der die moderne Welt erfasst und ihr Niedergang beschrieben wird. Verena Schweiger

Olga Slawnikowa: 2017. Aus dem Russ. von Christiane Körner und Olga Radetzka. 461 Seiten, Matthes & Seitz, Berlin 2016 EUR 25,70