Früher Tod, fehlender Lyrikband
Renia Spiegel, die Verfasserin des Tagebuchs schreibt im Jänner 1939: „Und schweigen wirst du, wie das mit dem verzauberten Schlüssel verschlossene Zauberbuch, das in einem Zauberschloss versteckt ist. Niemals verrätst du mich. Vielleicht werden es die kleinen blauen Buchstaben tun, die von Menschen erkannt werden.“ (S. 17) Jahrzehnte später wird das Tagebuch vom Schulfreund Zygmunt an ihre Mutter in den USA übergeben, später erbt es ihre jüngere Schwester. Das Tagebuch zeugt von Renias Verlusten: Zunächst endet das Kindheitsleben im weißen Herrenhaus am Dnjestr mit dem Umzug zu den Großeltern, dann machen sich Mutter und Schwester ohne Renia auf den Weg, um der Schwester eine Bühnenkarriere zu ermöglichen. Knapp nach ihrem 18. Geburtstag wird Renia im Ghetto von Przemyśl von Nazis auf der Straße erschossen. Das Tagebuch enthält auch Gedichte, mit denen sie als Gymnasialschülerin Preise gewann. Ein eigener Lyrikband könnte die Bedeutung der Gedichte stärker hervorheben, denn es bedarf einiger Disziplin, sie als Leserin im Tagebuch gebührend wahrzunehmen. Das Tagebuch überliefert auch die Sorgen, Nöte und Freuden des Verliebtseins. Überschattet wird das Leben vom Terror-Regime der Nazis. Das Tagebuch endet mit wiederholten Hilferufen an Buluś (die Mutter) und Gott. Nach Renias Tod folgen Einträge von Zygmunt, dem Schulfreund und ihrer Jugendliebe. Renia Spiegels Werk wird seit 2015 in der Renia Spiegel Foundation gewürdigt.
Gerlinde Mauerer
Renia Spiegel: Tagebuch 1939-1942. Aus dem Poln. von Joanna Manc. Vorwort, Nachwort und Anmerkungen von Elizabeth Bellak. 480 Seiten, Schöffling & Co, Frankfurt/M. 2021 EUR 26,00